SPIELEN. ERLEBEN. ERINNERN.

Das FLTB in Anekdoten des Gründers und Leiters Rudolf Maier-Kleeblatt

Seit 1981 haben wir schätzungsweise an die 2.200 Vorstellungen gegeben. Die meisten Aufführungen liegen im Normalbereich der Theaterroutine und sind schnell wieder vergessen. Allerdings gibt es gelegentlich, glücklicherweise nicht allzu oft, Situationen, die noch lange im kollektiven Gedächtnis des Ensembles haften bleiben und sich im Laufe der Zeit zu Anekdoten verdichten.

Kollege Ziegenbock

Die allererste Produktion war 1981 das bairische Singspiel „Der Holledauer Fidel“ von Eduard Kutschenreuther. Nach der Generalprobe kam die ökologisch belastete Regisseurin, die auf einem Bauernhof wohnte, zur Ansicht, dass „da noch irgendwas fehlt“. Sie überlegte sich etwas. Am nächsten Tag fand die Premiere im restlos ausverkauften Oberbräu-Saal in Holzkirchen statt. Und siehe da: Im Festzug, dem Höhepunkt des 2. Aktes marschierte ein Ziegenbock offensichtlich bestens gelaunt und im Bewusstsein der Besonderheit seiner Rolle durch die langen Stuhlreihen mit. Er verströmte einen ausgesprochen individuellen Duft, den niemand ignorieren konnte. Als  das stolze Tier schließlich an der Orchesterbrüstung entlangtrippelte hatten die Musiker  samt Dirigent alle Mühe, die Contenance zu wahren und den Marsch mit Anstand zu Ende zu bringen. Die Überraschung war gelungen. Nach der Vorstellung fand sich rasch ein Orchesterkomitee, das einen Eilantrag auf Änderung der Besetzung bei mir einreichte. So mussten wir für die weiteren Vorstellungen den bemühten „Kollegen“ Ziegenbock leider wieder ausladen. Den Duft habe ich allerdings heute noch in der Nase.

Gans oder gar nicht.

Ende der Neunziger kam es zu einer sehr ambitionierten Inszenierung der Märchenoper „Die Königskinder“ mit wunderbarer Musik von Engelbert Humperdinck. Ein echter persischer Prinz, Bishan Ahsef, vormals Intendant der Teheraner Oper, der nach dem Fall des persischen Herrscherhauses nach München emigrierte und leider früh verstarb, war zugange mit unserem Ensemble eine berührende Produktion zu erarbeiten. Die weibliche Hauptrolle in diesem Stück ist eine Gänsemagd, die bei einer Hexe unfreiwilligen Dienst tut. Also musste eine Gans her. Das war Konsens. Und so hielten wir Ausschau, wie wir im ländlichen Miesbach zu einem geeigneten Vieh kommen könnten. Damals hatten wir ein Mädchen im Kinderchor, Magdalena Brandl, deren Mutter bekennende Sympathisantin des FLTB ist und auf ihrem Bauernhof auch Gänse hält. Magdalena erklärte sich bereit, gemeinsam mit ihrer Schwester Vroni vier Küken besonders zu betreuen, an den engen Kontakt mit Menschen zu gewöhnen sie auf ihre besondere künstlerische Aufgabe vorzubereiten. Das war im Frühjahr. Alles lief wie geschmiert, die Tiere wuchsen heran und wurden liebevoll von den Mädchen gehegt und gepflegt. Im Sommer durften wir die Prachtexemplare begutachten und die Freude war groß.

Anfang September dann ein Anruf der Mutter: totales Desaster. Was war passiert? Die Familie fuhr in Urlaub und eine Dorfhelferin führte aushilfsweise den Hof. Sie tat das offensichtlich sehr gewissenhaft und gründlich, denn keines der Tiere hat die anstehende Schlachtungswelle überlebt. Man hatte in der Eile bei der Übergabe versäumt sie über die Bestimmung der vier Gänse zu unterrichten.

Im November sollte Premiere sein. Was konnte man tun? „Kein Problem“ sagte unser Regisseur „Bei uns in Oberaudorf gibt es einen Nachbarn, der Gänse hat. Den frage ich.“ Gesagt getan. Vier Substituten waren im Nu akquiriert. Achtmal fuhr meine Frau Elisabeth Neuhäusler, die Darstellerin der Gänsemagd, von Miesbach nach Oberaudorf, um sich mit dem Metier vertraut zu machen und die Gänse an sie zu gewöhnen. Die Proben näherten sich dem Ende. Bei der Hauptprobe auf der Bühne im Jugendstilsaal unseres neuen Stammhauses im Waitzinger Keller kamen die Tiere zum Einsatz. Der große Käfig wurde im Aufzug direkt an der Hinterbühne abgestellt und am Ende der Ouvertüre geöffnet. Sanft wurden die aufgeregten Tiere über einen Seitenumgang zur offenen Bühne getrieben. Hochspannung herrschte im Saal, im Graben und auf der Bühne. Würde es funktionieren? Die Gänse ließen ihrem Freiheitsdrang vollen Lauf und watschelten schnatternd auf die Bühne, wo sie von meiner Frau freudig und erwartungsvoll in Empfang genommen wurden. Einige Gänse schlugen wild mit den Flügeln um sich und drohten in den Saal zu fliegen oder in den Orchestergraben zu fallen. Die arme Gänsemagd hatte alle Hände voll zu tun, das Schlimmste zu verhindern. Es entwickelte sich ein ziemliches Tohuwabohu. Eines der Tiere zwickte sie mit Vorliebe in den Arm, andere in die Beine. Alle vier sonderten äußerst unappetitliche Häufchen gut verteilt auf dem hölzernen Bühnenboden ab. Die Szene drohte zu eskalieren. Herzhaftes Gelächter im Saal. Techniker eilten zu Hilfe. Ich winkte das Orchester ab. Nichts ging mehr. Es dauerte eine Weile, bis wieder alles im Griff war. Die Gänse hatten auf beiden Bühnenumgängen die Flucht nach hinten ergriffen. Es sah aus, wie im Schweinestall, alles versch……… und versaut.

Doch so leicht gibt man beim FLTB nicht auf. Für die Generalprobe am nächsten Tag wurden sehr dünne Nylon-Netze aufgespannt, die verhindern sollten, dass die Gänse in den Saal fliegen. Zusätzlich wurden alle Zugänge mit dickem Packpapier ausgelegt, um die Teppiche zu schonen. Das hat auch alles prima funktioniert, aber die Tiere wurden immer aggressiver. Besonders eine Gans attackierte unsere Hauptdarstellerin so massiv, dass wir - auch angesichts der übelriechenden Hinterlassenschaften und der drohenden Regressansprüche des Saalbetreibers - von weiteren Tiereinsätzen Abstand nehmen mussten. Zum Zug kamen nun Gänse aus Plastik – etwas langweilig, aber wohltuend einfach zu handhaben.

Nach der Dernière wurde zum „Kollegen-Essen“ nach Oberaudorf eingeladen – bisher der einzige bekannte Fall von Kannibalismus beim Freien Landestheater. Magdalena Brandl hat ihr Jugendtrauma glücklicherweise überwunden und singt seit vielen Jahren im Theaterchor des FLTB. Statt vier Gänsen betreut sie jetzt vier eigene Kinder.

Unverwechselbare Orte

1991 wurde ein Mozart-Jahr begangen. Der Todestag des großen Salzburger Genies jährte sich zum 200. Mal. Unser Beitrag am Freien Landestheater Bayern war das deutsche Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“. Es ließ sich alles soweit ganz gut an. Die Produktion hatte erfolgreich Premiere und ging auf Gastspiele an verschiedenen Spielstätten im Lande. Unter anderem im Dezember auch nach Taufkirchen südlich von München. Die Vorbereitungen vor Ort waren in vollem Gange, das Bühnenbild war aufgebaut, die Orchestermusiker nahmen allmählich ihre Plätze für die Anspielprobe ein und die Solisten saßen in der Maske. Nur einer fehlte noch – der Tenor, Darsteller des „Belmonte“ im Stück, eine ziemliche unangenehme Partie, die eine hervorragende Gesangstechnik und noch bessere Nerven braucht. Während ich die Partitur am Dirigierpult aufschlage hastet ein Mitarbeiter aufgeregt fuchtelnd über die Bühne und bedeutet mir ich möge dringend sein Handy nehmen. Es meldet sich unser Tenor: Es tue ihm sehr leid, aber er stünde jetzt in Taufkirchen an der Vils und wundere sich, warum niemand von uns da sei. Ich schlug ihm vor er möge sich umgehend nach Taufkirchen bei München begeben. Er meinte auch, dass das wohl das Beste wäre und legte auf. Die Anspielprobe fand dann ohne ihn statt. Nach einer Stunde war der Saal voll besetzt und das Publikum wartete auf den Beginn. Das Orchester nahm vor der Bühne Platz und wartete auf mich, den Dirigenten. Doch ich trat nicht vor mein Orchester, sondern kam vor den Vorhang auf die Bühne und informierte das Publikum, dass der Tenor sich bemühe möglichst rasch her zu kommen und dass wir um etwas Geduld bitten.

Nach ca. 15 Minuten wurde das Publikum unruhig und wir überlegten krampfhaft, wie es zu unterhalten sei. Cornelia Vasile, eine etwas ältere rumänische Geigerin, die in ihrer Jugend als Wunderkind galt und mit 18 Jahren schon sämtliche Capricen von Paganini mit höchstem Schwierigkeitsgrad auf Tonträger aufgenommen hatte, bot sich an, einige Sätze aus der d-moll Suite von Bach für eine Solo-Violine zum Besten zu geben. Weil sie nicht mehr so gut stehen konnte, drehte sie ihren Stuhl einfach um und spielte sitzend hinter der Orchesterbrüstung mit großer Hingabe und bewundernswertem Können. Währenddessen ging ich wegen des besseren Empfangs ins Freie und rief wieder unseren Tenor an, um nach seinem Verbleib zu fragen. Mittlerweile gab es Eisregen und die Straßen verwandelten sich in Rutschbahnen. Er sei jetzt wieder in München, völlig fertig mit den Nerven, komme bei den schwierigen Straßenverhältnissen aber kaum voran und weiß nicht, ob er überhaupt noch fahren könnte. Ich regte an er solle ein Taxi bestellen, das ihn sicher hierher bringen könnte. Ja das wolle er versuchen. Ich ging wieder in den Saal. Dort nahm unser beflissener Oboist, Alexander Maschat, selbst Dirigent im Hauptberuf und Leiter des Kurorchesters Bad Wiessee, die Dinge in die Hand und sang mit dem Publikum Weihnachtslieder unter der improvisierten musikalischen Begleitung seiner willigen Kollegen. Nachdem das eine gute Stunde so ging, schlug die Veranstalterin vor, eine Pause einzuschalten. So wurde es verkündet und das Publikum strömte an die Bar. Ich wartete indessen im Freien um nach einem Taxi Ausschau zu halten.

Nach weiteren 15 Minuten kam es endlich an und ich nahm einen komplett entnervten Tenor in Empfang. Er begrüßte mich mit den Worten „Ich weiß nicht, ob ich heute noch einen Ton herausbringe“. Na super, dachte ich, dafür haben wir die Leute hier ewig hingehalten. Mit gutem Zureden begleitete ich ihn in die Maske. Alle halfen mit und in zehn Minuten war er bühnenfertig. Das Publikum nahm wieder die Plätze ein, der Vorhang hob sich und ein komplett überstrapazierter Tenor quälte sich ziemlich an seiner schweren Partie. Immerhin ging die Vorstellung ohne weitere Komplikationen gut über die Bühne. Das Publikum war sehr zufrieden und in der Kritik war zu lesen, man habe hier einen der beeindruckendsten Abende der letzten Jahre erleben können.

Der junge Tenor beendete kurz danach seine Solistenkarriere und trat ein sehr gutes Engagement in einem professionellen Spitzenchor in München an.

Die Tor macht weit

Mit der gleichen Produktion gastierten wir im Kultur- und Kongresszentrum in Rosenheim. Alles lief wunderbar, der zweite Akt war schon sehr fortgeschritten. Ich war in voller Fahrt und konzentrierte mich auf mein Dirigat. Das wunderbare Pizzicato-Ständchen des Pedrillo war vorbei und die Flucht der beiden Paare Blondchen-Pedrillo und Konstanze-Belmonte stand unmittelbar bevor. Beim Dirigieren bekomme ich von der Szene wenig mit, weil ich auf die musikalische Führung der Sänger, richtige Einsätze, ausgeglichene Dynamik, gute Tempi usw. zu achten habe. Nun kam die entscheidende Szene, in der die vier Flüchtenden – von den Wachen unentdeckt - mithilfe einer Leiter über die hohe Mauer aus dem Serail in die Freiheit klettern mussten. Die Situation ist spannend und ernst.

Normalerweise ist es an dieser Stelle mucksmäuschen still im Saal. Die Musik endet kurz vor der Flucht und reiner Dialog beginnt. Jeder bangt, ob die Flucht wohl gelingen würde. Doch diesmal höre ich im Publikum hinter mir erst vereinzeltes Kichern, dann anschwellende Belustigung und schließlich schallendes, herzhaftes Gelächter. Ich war irritiert, drehte mich leicht um und ein Besucher in der ersten Reihe zeigte mit dem Finger demonstrativ auf die Bühne. Ich schaue auf die Bühne und dann war alles klar: Das Tor stand weit offen und unsere kräftige Konstanze quälte sich dennoch etwa einen Meter daneben über die mannshohe Mauer. Unsere Bühnentechniker hatten versehentlich vergessen das Tor rechtzeitig zu schließen.

Tücken der Technik

Ein Riesenthema im Gastspielbetrieb ist die Logistik. Natürlich kam es immer wieder mal vor, dass die Polizei in Routinekontrollen unseren LKW samt Container aufgehalten hat oder dass es unterwegs Pannen gegeben hat und unsere Ausstattung erst in letzter Minute ankam. Einmal erkannte das Technikteam erst vor Ort, dass der Fahrer den falschen Container angehängt hatte. Das war glücklicherweise in Benediktbeuern bei einer Freilichtveranstaltung mit Mozarts „Zauberflöte“. Wir konnten zurückfahren und den richtigen Container in Miesbach noch rechtzeitig holen. Für solche unvorhersehbaren Widrigkeiten sind immer Reservezeiten eingeplant.

Zur gleichen Veranstaltung fehlten dann auch noch unerklärlicherweise die beiden Hornstimmen. Mit einem Anruf im Gärtnerplatz-Theater in München konnten wir das Problem lösen. Freundlicherweise hat uns der dortige Notenwart Albert Ginthör das fehlende Material kopiert und unser Faktotum Wolfgang Braunegger konnte die Noten dort mit dem PKW als Schnellkurier abholen. Erst beim Heimfahren im LKW fiel einem Techniker dann plötzlich auf, dass da „so komische Noten“ auf dem Beifahrersitz liegen und wollte wissen, „ob die jemandem abgehen“. Natürlich handelte es sich um die fehlenden Hornstimmen. Sie waren am Vorabend im Graben liegen geblieben und wurden von den Technikern beim Einsammeln aller Gerätschaften mitgenommen.

Seither verwahre ich den kompletten Notensatz für das Orchester immer in meinem Koffer.

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